Nachbarschützende Wirkung von Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung?

§ Kommentar


Nachbarschützende Wirkung von Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung?

Zu BVerwG, Urteil vom 09.08.2018 – BVerwG 4 C 7.17 -.

22. Oktober 2018

 

Das BVerwG hat über einen von den Festsetzungen eines Bebauungsplans abweichenden Bauvorbescheid für ein mehrgeschossiges Bauvorhaben am Großen Wannsee in Berlin entschieden. Der Bauvorbescheid sieht die Befreiung von der festgesetzten Zahl der Vollgeschosse (zwei) auf sechs und der zulässigen Baumassenzahl (1,0 m³ je m2 Grundstücksfläche) auf 4,3 m³ je m² Grundstücksfläche vor.

Das Bezirksamt Steglitz-Zehlendorf von Berlin hatte einem Bauherrn einen Bauvorbescheid für die Bebauung eines Ufergrundstücks am Großen Wannsee erteilt. Dieser sah die Errichtung eines mehrgeschossigen Wohnhauses mit Gewerbeanteil vor. Ein benachbarter Segelverein klagte hiergegen.

Mit der Bebauung sollte das Ergebnis eines städtebaulichen Wettbewerbs umgesetzt werden. Die Grundstücke liegen im Geltungsbereich eines übergeleiteten Bebauungsplans aus dem Jahr 1959, der durch einen Textbebauungsplan 1971 geändert wurde. Das Gebiet ist als Sonderzweckfläche für den Wassersport ausgewiesen. Die Zahl der zulässigen Vollgeschosse wird hier mit zwei und eine größte Baumasse von 1,0 m3 umbauten Raums je m2 Baugrundstück festgesetzt. Das Baugrundstück wurde in den 1970er Jahren viergeschossig bebaut. Diese Bebauung wird jedoch nicht mehr genutzt. Das Bezirksamt Steglitz-Zehlendorf von Berlin erteilte einen Bauvorbescheid, der die Befreiung von der festgesetzten Zahl der Vollgeschosse auf sechs Vollgeschosse und der zulässigen Baumassenzahl von 1,0 m³ je m² Grundstücksfläche auf 4,3 m³ je m² Grundstücksfläche in Aussicht stellte. Gegen diesen wandte sich die Klage. Das Verwaltungsgericht hielt daraufhin den Bauvorbescheid für rechtswidrig, da eine Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans nur erteilt werden dürfe, wenn sie die Grundzüge der Planung nicht berühre. Die in Aussicht gestellte Befreiung verletze den Kläger in seinem Anspruch auf Erhalt der typischen Prägung des Gebiets. Die Festsetzung von lediglich zwei Vollgeschossen diene dazu, das landschaftlich reizvolle Gesamtbild des Gebietes, das für den Ausflugsverkehr der Berliner Bevölkerung von übergeordneter städtebaulicher Bedeutung sei, zu erhalten und zu verbessern. Auch das Oberverwaltungsgericht schloss sich dem an und wies die Berufung zurück und ließ die Revision zu.

Auch das Bundesverwaltungsgericht hat die Vorinstanzen bestätigt und die Revision für unbegründet entschieden. Der Bauvorbescheid ist im angefochtenen Umfang rechtswidrig erteilt worden. Gemäß § 31 Abs. 2 BauGB kann von den Festsetzungen des Bebauungsplans befreit werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden, einer der in Nr. 1 bis 3 genannten Tatbestände erfüllt ist und wenn die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist. Durch die Festsetzungen zum Nutzungsmaß sollte das Landschaftsbild an dieser herausragenden Stelle geschützt und der Gebietscharakter erhalten werden. Das bis heute bestehende Planungskonzept eines grünen Uferbereichs sei im Wesentlichen auch verwirklicht worden. Dem Vorhaben, das im Rahmen eines ausgelobten Architektenwettbewerbs entwickelt wurde, war bereits durch die Auswahlkommission attestiert worden, dass es einen morphologischen Bruch mit der Umgebung erzeuge, wenngleich dem Solitär jedoch die Eignung bescheinigt wurde, der Umgebung eine neue Ordnung zu geben und sie so zu erden. Dem Vorhaben komme gemäß den Ausführungen des Gerichts als städtebauliche Dominante eine Schlüsselfunktion für eine neue städtebauliche Ordnung zu, die die Grundzüge des Bebauungsplans berührt.

Die in Aussicht gestellten Befreiungen verletzen den Kläger aber auch in seinen Rechten als Grundstücksnachbar. So ist das Oberverwaltungsgericht davon ausgegangen, dass gegen eine fehlerhafte Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung eines Bebauungsplans ein nachbarlicher Abwehranspruch gegeben ist. Bei nachbarschützenden Festsetzungen führt also jeder Fehler bei der Anwendung des § 31 Abs. 2 BauGB zur Aufhebung einer Baugenehmigung oder eines Bauvorbescheids. Eine fehlerhafte Befreiung von einer nicht nachbarschützenden Festsetzung löst einen Abwehranspruch des Nachbarn hingegen nur aus, wenn die Behörde bei ihrer Ermessensentscheidung über die Befreiung nicht die gebotene Rücksicht auf nachbarliche Interessen genommen hat. Im vorliegenden Fall hat das Oberverwaltungsgericht die Festsetzungen zur Vollgeschoss- und Baumassenzahl im Bebauungsplan als nachbarschützend angesehen. Den nachbarschützenden Charakter der Maßfestsetzungen hat das Gericht unmittelbar aus dem Bebauungsplan abgeleitet. Ob Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung auch dem Schutz des Nachbarn dienen, hängt vom Willen der Gemeinde als Plangeber ab. Nach den Feststellungen der Vorinstanz haben Fragen des nachbarschützenden Charakters bei der Aufstellung und Inkraftsetzung des Bebauungsplans allerdings keine Rolle gespielt, da der Gedanke des Nachbarschutzes im öffentlichen Baurecht erst ab 1960 entwickelt wurde. Dennoch sah das Oberverwaltungsgericht darin keinen Grund für die Versagung von Drittschutz. Maßfestsetzungen kämen drittschützende Wirkung zu, wenn sie nach dem Planungskonzept Bestandteil eines wechselseitigen nachbarlichen Austauschverhältnisses seien. Der Senat ist dem Oberverwaltungsgericht darin gefolgt, dass Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung auch dann drittschützende Wirkung entfalten können, wenn der Bebauungsplan aus einer Zeit stammt, in der an einen nachbarlichen Drittschutz noch nicht gedacht wurde. Dieser Umstand verbietet es nicht, die Festsetzungen nachträglich subjektiv-rechtlich aufzuladen.

Die vom Kläger angegriffenen Befreiungen hätten also nicht in Aussicht gestellt werden dürfen.


Entscheidung:

BVerwG, Urteil vom 09. August 2018 – BVerwG 4 C 7.17 -, ECLI:DE:BVerwG:2018:090818U4C7.17.0

Verfahrensgang:

OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 30. Juni 2017 – 10 B 10.15 -, juris.
VG Berlin, Urteil vom 15. August 2013 – 13 K 306.12 -, openJur 2015, 2784.