§ Kommentar
Rechtsprechung zur raumordnerischen Agglomerationsregelung: Bereits bei zwei (möglichen) Einzelhandelsvorhaben relevant?
Zu VGH Bayern, Urteil vom 14.12.2016 – 15 N 15.1201 -, Urteil vom 28.02.2017 – 15 N 15.2042 -.
31. Juli 2017
In einem Urteil hat der VGH Bayern einen Bebauungsplan einer nichtzentralen Gemeinde für unwirksam erklärt (VGH Bayern, vom 14.12.2016 – 15 N 15.1201 -, juris). Der Plan setzte u. a. einen großflächigen Lebensmitteleinzelhandelsbetrieb mit einer Verkaufsfläche von höchstens 1.100 m² sowie einen Getränkemarkt mit einer Verkaufsfläche von bis zu 310 m² fest. Der amtliche Leitsatz führt aus: „Die für Einzelhandelsgroßprojekte geltenden raumordnerischen Vorgaben sind im Rahmen der Bauleitplanung nicht erst dann zu beachten, wenn die Bildung einer raumbedeutsamen Agglomeration mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist und ihre Bildung unmittelbar bevorsteht; entscheidend ist vielmehr, ob die Bildung von Agglomerationen des zentrenrelevanten Einzelhandels, die die Raumbedeutsamkeitsschwelle überschreiten, auf den Nutzungsflächen kein völlig unrealistisches Szenario darstellt.“ (ebd.)
In einem weiteren Urteil hat der VGH Bayern ein Urteil in einem ähnlichen Zusammenhang mit vergleichbarer Begründung gefällt (VGH Bayern, Urt. v. 28.02.2017 – 15 N 15.2042 -, juris). So wandte sich eine grundzentrale Gemeinde gegen ein Vorhaben in einer nichtzentralen Gemeinde innerhalb der gleichen Verwaltungsgemeinschaft. Der angegriffene Bebauungsplan sah einen Lebensmittelmarkt mit 1.200 m² Verkaufsfläche und einen Getränkemarkt mit 280 m² vor. Die antragstellende Gemeinde war ihrerseits bereits seit längerem bestrebt, einen Lebensmittelmarkt anzusiedeln. Der hierfür interessierte Investor war allerdings auch und vorrangig an dem Vorhaben in der nichtzentralen Gemeinde interessiert, wollte allerdings nur eines der Vorhaben realisieren. Das Gericht erklärte den Bebauungsplan für formell und materiell für unwirksam.
Gemäß LEP Bayern können bis zu 1.200 m² Verkaufsfläche bei Nahversorgungsbetrieben ausnahmsweise zulässig sein. Die angegriffenen Bebauungspläne überschreiten diese Grenze nach Auffassung des Gerichts jedoch. Nicht nur Betriebe i. S. d. § 11 Abs. 3 BauNVO, sondern auch Agglomerationen von jeweils für sich betrachtet nichtgroßflächigen Einzelhandelsbetrieben sind als Einzelhandelsgroßprojekte anzusehen. Dies gilt auch für Betriebe in räumlichfunktionalem Zusammenhang im Anschluss an ein Einzelhandelsgroßprojekt mit überüberörtlicher Raumbedeutsamkeit. Zwar sind Einzelhandelsbetriebe nur dann großflächig i. S. d. BauNVO, wenn sie in selbständigen Gebäuden untergebracht und konzeptionell eigenständig sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 24.11.2005 – 4 C 14.04 -, juris), die Regelung im LEP Bayern ist über diese Beurteilung jedoch hinausgehend. So kann ein für eine raumordnerisch schädliche Agglomeration vorliegender räumlicher und funktionaler Zusammenhang einzelner Einzelhandelsbetriebe auch dann vorliegen, wenn die einzelnen Einzelhandelsbetriebe baulich vollständig voneinander getrennt sind. Im konkreten Fall urteilte das Gericht, dass „trotz der im Bebauungsplan vorgesehenen baulichen Trennung von Lebensmittelmarkt und Getränkemarkt […] schon aufgrund der planerischen Ausweisung der unmittelbar benachbarten Grundstücke, aufgrund der sich gegenseitig ergänzenden Warensortimente und aufgrund der faktisch gemeinsamen Parkflächen ein ausreichender räumlichfunktioneller Zusammenhang und damit eine landesplanerisch unerwünschte Einzelhandelsagglomeration“ besteht (VGH Bayern, Urteil vom 28.02.2017 – 15 N 15.2042 -, juris). Im Weiteren begründete das Gericht für diesen Fall detaillierter, warum eine „faktische“ Agglomeration im konkreten Fall vorliegt. Diese beurteilte das Gericht zudem als raumbedeutsam. Da bei einer solchen Agglomeration die Ausnahmeregelung, dass auch bis zu 1.200 m² Verkaufsfläche eines Nahversorgungsbetriebs zugelassen werden, jedoch gemäß den Festlegungen des LEP Bayern nicht greift, steht die Planung einem Ziel der Raumordnung entgegen. Die mögliche Agglomeration der beiden Betriebe hatte sich zudem in der erteilten Baugenehmigung realisiert.
Würdigt man diese Urteile über die konkreten Einzelfälle hinaus, so hat das Gericht dem Umstand Sorge getragen, dass in der Praxis bislang eine raumordnerische Agglomerationsregelung und die Schwelle zur Großflächigkeit gem. § 11 Abs. 3 BauNVO bewusst umgangen bzw. „umschifft“ werden konnten bzw. entsprechende Funktionseinheiten unzutreffenderweise nicht als solche im Sinne der Agglomerationsregelung erkannt wurden. So wurden beispielsweise nicht selten Discounter konzipiert, deren Sortimente teilweise (insbesondere Getränke) vom Hauptbetrieb baulich separiert wurden, um nicht der Großflächigkeit zu unterliegen. Inwieweit diese bauliche Trennung aus betriebswirtschaftlichen Überlegungen sinnvoll war, ließ sich aber ohnehin nur im konkreten Einzelfall durch den Investor und überdies wohl kaum durch die planende Gemeinde selbst beantworten. Unbestreitbar zielte dies aber in der Summe der einzeln baulich realisierten Verkaufsstätten auf eine Erhöhung der realisierbaren Verkaufsfläche über der Schwelle der Großflächigkeit gem. § 11 Abs. 3 BauNVO ab. Da aber in der Genehmigungspraxis in Bayern bislang – vereinfacht ausgedrückt – darauf abgestellt wurde, dass für das Vorhandensein einer Agglomeration mindestens drei Betriebe vorliegen mussten, war zumindest eine für alle Seiten handhabbare bzw. vorausschaubare Verwaltungspraxis gegeben.
Dies bedeutet gleichwohl nicht, dass eine Ansammlung von zwei Einzelhandelsbetrieben per se eine Agglomeration darstellt, die somit einer raumordnerischen Agglomerationsregelung unterliegen kann – sofern die Raumordnung hier Beurteilungsmaßstäbe ansetzt, die über die des § 11 Abs. 3 BauNVO hinausgehen. Vielmehr wird es bei der Beurteilung solcher Planungen bei Vorliegen entsprechender raumordnerischer Regelungen noch deutlicher auf die Umstände des Einzelfalls ankommen. Sollten sich erkennbare Hinweise darauf ergeben, dass eine Agglomeration und die mit ihr verbundenen positiven wirtschaftlichen Effekte planerisch erwünscht und durch die Festlegungen auch erzielbar sind, so kann dies auch ungeachtet der Anzahl der vorgesehenen Betriebe einer Agglomerationsregelung entgegenstehen. Es erschien ohnedies aber auch bislang nicht plausibel, weshalb in der Praxis unbedingt mindestens drei Betriebe vorgesehen sein mussten, damit eine Planung unterstellt wurde, der Agglomerationsregelung zu unterliegen. Nunmehr wird aber die Beurteilung, ob ein Vorhaben genehmigt werden darf, in Bayern deutlich komplizierter werden. Denn die Frage, ob eine aus Sicht der Raumplanung anzunehmende Agglomeration vorgesehen oder möglich ist, wird sich für den Einzelfall und auch für bestehende Standorte noch vertiefter stellen. Will eine nichtzentrale Gemeinde also beispielsweise Einzelhandel an einem konkreten Standort bauleitplanerisch ermöglichen, sollte sie die Zulässigkeit weiterer Betriebe, die mit der Verkaufsfläche des vorgesehenen Betriebs in einem der Agglomerationsregelung unterliegenden Fall zusammengerechnet werden würden, ausschließen. Planerische Instrumente stehen ihr hierfür ausreichend zur Verfügung.
Urteile:
VGH Bayern, Urteil vom 14.12.2016 – 15 N 15.1201 -, juris.
VGH Bayern, Urteil vom 28.02.2017 – 15 N 15.2042 -, juris.