Bebauungsplan mit Einzelhandelsfestsetzungen: Kumulative Auswirkungen und sonstige Umstände einbeziehen!

§ Kommentar


Bebauungsplan mit Einzelhandelsfestsetzungen: Kumulative Auswirkungen und sonstige Umstände einbeziehen!

Zu VGH Bayern, Urteil vom 17.12.2018 – 15 N 16.2373, 15 N 17.1598 -.

21. Januar 2019

Der VGH Bayern hat über Normenkontrollanträge zu einem Bebauungsplan mit Festsetzungen zum zentrenrelevanten Einzelhandel entschieden und hierbei insbesondere den Stellenwert kumulativer Auswirkungen und die Anforderungen an Verträglichkeitsanalysen in den Blick genommen.

Der im Jahr 2016 bekanntgemachte und durch die Antragsteller angegriffene Bebauungsplan dient der Festsetzung eines Wohn- und Einzelhandelsprojektes in innerstädtischer Lage auf einer Fläche von 1,8 ha. Unter anderem sollen ein Lebensmittel-Vollsortimenter mit einer Verkaufsfläche von 2.730 m² und ein Lebensmittel-Discounter mit einer Verkaufsfläche von 1.070 m² zulässig sein. Der Vorhabenstandort liegt in einem gemäß dem Einzelhandelskonzept als Nahversorgungszentrum dargestellten Bereich, in der Umgebung finden sich ein Fachmarktzentrum und weitere Nahversorgungszentren. Mit dem Vorhaben soll die Nahversorgungsstruktur gestärkt werden.

Ein Einzelhandelsgutachten war beauftragt worden, nachdem sich ein Bürgerstammtisch mit einem früheren Gutachten kritisch auseinandersetzte. Die Bürgerstammtische waren als Forum des Dialogs zwischen Bürgervertretern und der Verwaltung der Gemeinde abgehalten worden. Im Gutachten war der zu erwartende Gesamtumsatz in Höhe von 15 Mio. Euro ermittelt und dessen Zusammensetzung aus dem Bestandsumsatz, wettbewerbsneutralen Umsatzzuflüssen durch zusätzliche Einwohner am Vorhabenstandort und schließlich Umsatzzuflüssen aus dem Verdrängungswettbewerb dargestellt worden. Innerhalb des Untersuchungsgebietes wurde eine Umsatzumlenkung in Höhe von 5,1 Mio. Euro prognostiziert. Gemäß dem eingeholten Einzelhandelsgutachten würden damit auch unter Annahme eines Worst-Case-Szenarios keine schädlichen Auswirkungen auf zentrale Versorgungsbereiche und keine Beeinträchtigung der (Nah-) Versorgung der Bevölkerung zu erwarten seien, städtebauliche negative Effekte würden nicht ausgelöst werden.

Zudem wurde in der Gemeinde auch eine Baugenehmigung für die Erweiterung eines bestehenden Lebensmittelmarktes im westlich des Plangebiets gelegenen Einkaufszentrum um mehr als 1.000 m² Verkaufsfläche auf nunmehr 3.100 m² erteilt. Von den sortimentsbezogenen Festsetzungen des dort geltenden Bebauungsplans war hierbei befreit worden. Zudem beschloss der Stadtrat einen weiteren Bebauungsplan für ein nordöstlich des streitgegenständlichen Plangebiets gelegenes Gebiet. Hier sind demnach u. a. Gebäude, Anlagen und Einrichtungen des Einzelhandels zulässig, wobei eine Beschränkung auf zentrenrelevante Sortimente der Grundversorgung sowie eine Begrenzung der zulässigen Verkaufsfläche vorgegeben ist.

Gleich mehrere Gründe führten daraufhin dazu, dass gegen den Bebauungsplan Normenkontrollanträge gestellt wurden. Z. B. wurde beanstandet, dass der Bebauungsplan nicht als solcher der Innenentwicklung gemäß § 13a BauGB hätte aufgestellt werden dürfen. Des Weiteren wurde vorgetragen, dass die festgesetzte Verkaufsfläche von 3.800 m² im Widerspruch zum Einzelhandelskonzept stünde, denn diese entspreche nach den Kriterien des Einzelhandelskonzepts eher einem Stadtteilzentrum (hier mit mindestens 3.000 und meist 5.000 m² Verkaufsfläche definiert) als einem Nahversorgungszentrum (hier mit mindestens 1.500 und meist 2.000 m² Verkaufsfläche definiert). Es handele sich demnach beim im streitgegenständlichen Bebauungsplan dargestellten Verkaufsflächenangebots für ein Nahversorgungszentrum um einen Etikettenschwindel, da die vorgesehene Verkaufsfläche den als üblich angegebenen Wert um fast das doppelte übersteigt, wodurch die nächsthöhere Stufe eines Einzelhandelszentrums im Sinne des städtischen Einzelhandelskonzepts erreicht wird. Die festgesetzte Verkaufsfläche sei für das Ziel des Einzelhandelskonzepts deshalb kontraproduktiv, weil es nicht vorrangig auf die Nahversorgung sondern die Markterschließung auf weiter entfernt wohnende Konsumenten abziele. Auch deshalb seien die Auswirkungen des Vorhabens auf andere zentrale Versorgungsbereiche im Stadtgebiet nicht hinreichend ermittelt und abgewogen worden. Auch im Einzelhandelsgutachten seien die Vorschädigungen benachbarter zentraler Versorgungsbereiche sowie Auswirkungen auf benachbarte Versorgungsbereiche im kumulativen Zusammenwirken mit anderen aktuellen Planungsvorhaben nicht bzw. nicht hinreichend berücksichtigt worden.

Das Gericht entschied die Anträge für begründet und den streitgegenständlichen Bebauungsplan für unwirksam. Der angegriffene Bebauungsplan leidet an gemäß § 214 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 215 Abs. 1 Satz 1 BauGB beachtlichen Ermittlungs- und Bewertungsmängeln (§ 2 Abs. 3 BauGB), da kumulative – also im Zusammenwirken mit der Bauleitplanung für das nordöstlich des streitgegenständlichen Plangebiets gelegenen Gebietes sowie mit der Bescheidung der baurechtlich genehmigten Erweiterung des Lebensmittelmarkts westlich des Plangebietes – Auswirkungen auf die Erhaltung und die Entwicklung zentraler Versorgungsbereiche nicht hinreichend ermittelt und bewertet worden sind. Eine Gemeinde kann zwar auch Beeinträchtigungen zentraler Versorgungsbereiche sowie stärkere Abweichungen oder Beeinträchtigungen eines Einzelhandelskonzepts als Entwicklungskonzept i. S. v. § 1 Abs. 6 Nr. 11 BauGB hinnehmen, wenn sie aus ihrer Sicht vordringlichere Ziele verfolgt. Der Umfang einer möglichen Betroffenheit zentraler Versorgungsbereiche ist hierbei jedoch in die Abwägung einzustellen. Zwar hat das Gericht der Gemeinde diesbezüglich keinen Abwägungsausfall vorgeworfen, da sie sich bei der Frage der städtebaulichen Auswirkungen des Vorhabens auf zentrale Versorgungsbereiche auf eine Auswirkungsanalyse gestützt hat. Die Abwägungsentscheidung beruhte aufgrund der Nichtberücksichtigung wesentlicher Umstände jedoch auf einer nicht mehr aktuellen und daher unvollständigen Auswirkungsprognose. Hierzu hat das Gericht ausgeführt, dass die Berechnungsmethodik und die einzelnen Berechnungs- bzw. Beurteilungswege sowie die Annahmen der städtebaulichen Auswirkungen des Verträglichkeitsgutachtens in geeigneter Weise darzustellen und zu begründen gewesen wäre. Die Begründungs- und Darlegungstiefe hängt dabei vom jeweiligen Einzelfall ab. Für den vorliegenden Fall bemängelte das Gericht, dass es ihm auch nach weiteren Erläuterungen des Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung und den dort vorgelegten Unterlagen nicht möglich gewesen sei, die um Gutachten dargelegte Umsatzumverteilung für die einzelnen betroffenen Standorte mit allen wesentlichen Zwischenschritten und gutachterlichen Zwischenüberlegungen lückenlos logisch nachzuvollziehen. Das Gericht hat in seinen Ausführungen entsprechende (weitere) Anforderungen an Verträglichkeitsgutachten beschrieben, die in der Entscheidung nachgelesen werden können. Da der Bebauungsplan aufgrund anderer Erwägungen bereits unwirksam ist, ließ das Gericht die Frage jedoch ohnehin dahinstehen, ob es sich das Risiko der Nichterweislichkeit der Plausibilität der Umsatzumverteilungsangaben im Verträglichkeitsgutachten aufzubürden hätte oder ob weitere Ermittlungen angezeigt gewesen wären. Ebenso hat es sich nicht weiter damit befasst, ob die Angaben im Verträglichkeitsgutachten wegen – wie vom Antragsteller vorgetragen – unrichtiger bzw. unrealistischer Eingangsvariablen unplausibel und daher nicht aussagekräftig sind.

Weiter hat das Gericht ausgeführt, dass nach der Erstellung der Verträglichkeitsanalyse bis zum Satzungsbeschluss eingetretene Änderungen und Entwicklungen der planenden Kommune mithin Anlass geben können, eine mit veralteten Zahlen operierende gutachterliche Prognose aktualisieren zu lassen. Die Auswirkungen der parallelen Bauleitplanung mit potenziellen Auswirkungen auf benachbarte Versorgungsbereiche waren in die Ermittlung und Bewertung sowie die Abwägung einzubeziehen, was vorliegend nicht bzw. nicht hinreichend geschehen sei. Durch die Nichtbetrachtung kumulativer Auswirkungen sei zudem die Frage der Verschärfung einer Vorschädigung bestehender zentraler Versorgungsbereiche nicht hinreichend aufgearbeitet worden. Eine ergänzende Prognose wäre also erforderlich gewesen. Zwar hatte die Gemeinde aufgrund prognostizierter hoher Umsatzumverteilungswerte die Verkaufsflächen aus Rücksicht auf die städtebauliche Entwicklung benachbarter Versorgungsbereich begrenzt. Sie hatte hierbei aber nicht ermittelt, um wieviel weniger sich die reduzierte Planung auf die umgebenden Einzelhandelsstandorte tatsächlich auswirkt. Deshalb ging das Gericht davon aus, dass die Tragfähigkeit und Aussagekraft der Verträglichkeitsanalyse für die streitgegenständliche Planung nicht mehr gegeben waren. Die Bewertung des Gutachtens blieb also unkonkret und intransparent, weil die Kaufkraftabzugswerte in kumulativer Betrachtung beider Bauleitplanungen nicht transparent seien.

Auch die Vorschädigung eines zentralen Versorgungsbereichs habe die Gemeinde nicht hinreichend berücksichtigt. Es wäre Sache der Gemeinde gewesen, den Kaufkraftabfluss und seinen Einfluss auf die Schwächung des zentralen Versorgungsbereichs darzulegen und in die Abwägung einzustellen. Des Weiteren leidet der Bebauungsplan an einem Ermittlungs- und Bewertungsdefizit, weil kumulative Auswirkungen auf benachbarte Einzelhandelsstandorte in Form einer genehmigten Erweiterung der Verkaufsfläche eines Lebensmittelsupermarkts nicht bzw. nicht hinreichend ermittelt und bewertet worden sind.

Die weitere Streitfrage, ob der Bebauungsplan an einem formellen Mangel leidet, weil er ggf. zu Unrecht im vereinfachten Verfahren gem. § 13a BauGB erlassen wurde und deshalb eine ggf. gebotene Umweltprüfung gem. § 2 Abs. 4 BauGB, § 17 UVPG a.F. sowie ein ggf. gebotener Umweltbericht gem. § 2a BauGB unterblieben, ließ der Senat unbeantwortet.

Die dargelegten Ermittlungs- und Bewertungsmängel wurden durch das Gericht als beachtlich angesehen. Die aufgezeigten Mängel führten zur Nichtigkeit des gesamten Bebauungsplans. Die Gemeinde nahm keine ausreichend nachvollziehbare Ableitung von Schlussfolgerungen aus den Einzelhandelsgutachten vor. Zudem wurden Vorhaben nicht behandelt, die zum Zeitpunkt des Satzungsbeschlusses in Umsetzung bzw. bereits genehmigt waren. Außerdem wurde das Einzelhandelskonzept nicht hinreichend berücksichtigt, obwohl die Gemeinde weiterhin von dessen Gültigkeit ausging.


Entscheidung:

VGH Bayern, Urteil vom 17.12.2018 – 15 N 16.2373, 15 N 17.1598 -, http://www.gesetze-bayern.de/Content/Document/Y-300-Z-BECKRS-B-2018-N-34445, zuletzt abgerufen am 21.01.2019.